OPYTNOE POLE
CHAGAN

Kasachstan, 2012

Julian Heynen: Wiederum, wenn auch ganz anders, handelt es sich bei diesem Gelände und diesen Gebäuden um Hinterlassenschaften der Sowjetunion. Und gleichzeitig erinnern mich die Bilder seltsamerweise auch an die aus Mesopotamien. Kannst du zuerst einmal etwas über die Funktion dieser Strukturen auf dem Testgelände sagen?

Ursula Schulz-Dornburg: Die Strukturen, die man auf den Bildern sieht, sind Gebäude, die in ihrer spezifischen Form errichtet worden sind, um an ihnen die Zerstörungsenergie von Atombomben zu messen. Sie entstanden 1949, vier Jahre nach Hiroshima, als die Sowjetunion ihre erste Atombombe zündete. Bis 1963 gab es dort 124 Versuche in der Atmosphäre, danach wurden über 350 Bomben unterirdisch getestet. 1991 erfolgte der Abzug der Russen. 

Nach dem Ende der Sowjetunion ist viel von den Einrichtungen geplündert worden, sodass die nackten Strukturen übriggeblieben sind. Die Gebäude bekommen so etwas Surreales und haben eine besondere Kraft, wie sie in der radioaktiv verseuchten Landschaft herumstehen.

Auch hier also, wo alles durch die gewaltige Zerstörung „wie ohne Zeit“ zu sein scheint, gibt es natürlich verschiedene Zeitschichten, die man mit bedenken sollte, wenn man dort ist beziehungsweise die Bilder sieht. Wenn ich ganz pessimistisch bin, ist dieser Ort für mich aber auch ein Bild davon, wie die Erde insgesamt einmal sein könnte, wenn man auf sie zurückblickt.

JH: Was die Gebäude angeht, hat man jedoch den Eindruck, dass sie vielleicht auch in 500 oder 1000 Jahren noch in dieser Öde herumstehen könnten. Von daher gesehen könnten es auch zukünftige Verwandte der Zikkurats in Mesopotamien sein.

USD: Das war mir selbst nicht bewusst, aber offensichtlich habe ich eine Art zu fotografieren, die solche Vergleiche mit Recht nahelegt.

JH: Das gilt nicht nur für die großen aufrechten Strukturen, sondern auch für die Oberfläche des Landes, für die kleinteiligen Spuren und Abdrücke der Zeit auf und in ihr.

USD: Ja, insoweit sind die verstreuten Drahtgebilde, die gebrochenen Betonplatten und die unklaren Markierungen im Gras in Opytnoe Pole mit den Scherben und überwehten Ausgrabungsstellen in Mesopotamien vergleichbar.

 

„Die Vertikale der Zeit“, aus Gesprächen zwischen Ursula Schulz-Dornburg und Julian Heynen im Dezember 2017 und Januar 2018.

Kurchatov
Peter Kammerer, 24.2.2014

Die Vorstellung, in dieser Steppe fast am geographischen Mittelpunkt von Eurasien, Humboldt zu begegnen, der 1829 bei seinem Vorstoß zum Altaigebirge, dem Lauf des Irtysch folgend, hier vorbei gekommen war, verschwindet gleich nach der Ankunft. Sein Blick hatte die Gestaltung der Bodenfläche, die Richtung der Gebirgsketten, den Zusammenhang der Steppen und Wüsten und die geographische Verbreitung von Pflanzen nach gemessenen Temperatureinflüssen erfaßt. Heute bedecken die leicht gewellte Ebene zahlreiche Findlinge, rätselhafte, von den Menschen und der Zeit geformte Bauten und Gegenstände, Relikte eines mächtigen Totenkults.

Der Besuch des Atomwaffentestgeländes Kurchatov in Kasachstan, westsüdwestlich der Stadt Semei (russ. Semipalatinsk, Dostojewski`s Verbannungsort), führte die Fotografin Ursula Schulz-Dornburg in eines der immer zahlreicher werdenden Gebiete der Erde, die von der Wissenschaft auf Jahrhunderte für Menschen unbewohnbar gemacht werden.

Im August 1949, vier Jahre nach Hiroshima, zündete hier die Sowjetunion ihre erste Atombombe. Bis 1963 gab es 124 Versuche in der Athmosphäre, dann wurden über 350 Bomben unterirdisch getestet. 1991 erfolgte der Abzug der Russen. Die Stollen und Tunnel ins Innere der Erde zu den neu gebildeten Seen und tektonischen Verschiebungen wurden verfüllt und notdürftig verschlossen. Über der Erde leben Pflanzen, Tiere, Wasser und Wind mit dem nuklearen Niederschlag und seinen Folgen. Das Testgelände ist stillgelegt. Gegenstand der Ausstellung ist diese Stille.

Nomaden und organisierte Banden haben die Anlagen ausgeschlachtet und das Altmetall über die chinesische Grenze verschoben. Verstrahltes Material. Im allseitigen Zusammenhang der Natur, den Humboldt im Auge hatte, durchdringt es weiter die Welt in der wir leben. Archivaufnahmen von architektonischen Skulpturen, Messtürmen, Betonwürfeln, Drahtskeletten und Erdlöchern, in denen tausende von Tieren geopfert wurden, um die Wirkung der Bomben zu testen, bilden den historischen Hintergrund für die Fotoarbeiten von Ursula Schulz-Dornburg, die 2012 im selben Gebiet entstanden sind.

Kurchatov - Architecture of a Nuclear Test Site
Shoair Mavlian

In October 2012, twenty-two years after the end of the Cold War, Ursula Schulz-Dornburg travelled to Kazakhstan to photograph the remains of the former Soviet nuclear weapons testing site. Located in a vast area south west of the city of Kurchatov, in north eastern Kazakhstan, lies the former Soviet nuclear testing site. Active from 1949 to 1991, the site witnessed approximately 480 nuclear detonations, both in the atmosphere and later underground. Abandoned after the break-up of the Soviet Union and subjected to a seventeen-year, joint-nation clean up project, the site now lies dormant. The images depict the last vestiges of this relic of the Cold War arms race, including houses, streets, bridges and bunkers architecturally designed to test the force of the nuclear explosions. Schulz-Dornburg was interested in the secrecy that continues to shroud what had been a ‘closed city’, and in the effects of nuclear radiation on the surrounding villages and landscape. Searching for information but still blocked by bureaucracy, Schulz-Dornburg gathered several archival images of the detonations and their aftermath which are included in the accompanying leaflet.

From exhibition catalogue "Conflict. Time. Photography." Tate Modern, London, 2014